Die Geschichte von Vater, Sohn und dem Esel:
Ein Vater war mit seinem Sohn und einem Esel auf dem Weg nach Hause. Der Vater saß auf dem Esel, den der Sohn führte.
„Der arme Junge“, sagte ein vorbeigehender Mann. „kann kaum Schritt halten mit dem Esel. Wie kann man als Vater nur so faul auf dem Esel sitzen und zusehen, wie das Kind sich abmüht?“
Der Vater stieg betroffen ab und ließ seinen Sohn auf dem Esel weiterreiten.
Kaum um die nächste Ecke gebogen, hörten sie eine Frau sagen: „Das gibt es doch gar nicht! Sitzt auf dem Esel und lässt seinen armen, alten Vater nebenher laufen!“
Daraufhin beschlossen sie, zusammen auf dem Esel weiterzureiten.
„Der arme Esel!“ rief ihnen da der nächste Vorbeigehende voller Vorwurf zu. „So eine Tierquälerei! Sitzen zusammen faul auf dem Esel und lassen ihn die ganze Last tragen.“
Da stiegen beide ab und gingen den weiteren Weg neben dem Esel her. Schließlich hörten sie begleitet von lautem Lachen jemanden sagen: „Wie kann man nur so dumm sein? Laufen beide, obwohl sie einen Esel dabei haben!“
Schließlich sagte der Vater zu seinem Sohn „Egal, was wir machen, es gibt immer jemanden, der daran etwas auszusetzen hat. Nun machen wir nur noch das, was wir selber für richtig halten!“
(Laut Wikipedia geht diese Erzählung auf die osmanische Anekdotensammlung des Nasreddin aus dem 13./14. Jahrhundert zurück.)
Die Geschichte wird gerne genutzt, wenn es darum geht zu verdeutlichen, dass der Weg, es allen recht machen zu wollen, ins Nirgendwo führt. So weit, so einleuchtend.
Gefragt ist also der eigene Standpunkt. Nur, wo kommt der her?
Der Beitrag, den ich zur Geschichte bei wiktionary gefunden habe, ist kurz, aber interessant und führt auf eine weitere Spur dazu. Dort wird die Geschichte als Polylemma bezeichnet. Die Situation ist also noch vertrackter als ein Dilemma, weil es nicht nur zwei, sondern viele (poly) Entscheidungs-Möglichkeiten gibt. Vater und Sohn müssen also am Ende zwischen vier Möglichkeiten entscheiden, von denen – nach Abwägung der Einwände – keine eindeutig zu bevorzugen ist.
Allen selbsternannten ‚Ratgebern’ fehlt die Kenntnis, welche Überlegungen sich die beiden zuvor selbst gemacht haben. Interessant finde ich trotzdem, dass im Grunde jedem geäußerten Einwand eine Perspektive zugrunde liegt, die zu einer Wertung und Einschätzung führt, was nun richtigerweise zu tun sei. Jede ist aus genau dieser Perspektive gesehen vernünftig. Also weiten sich im Verlaufe der Geschichte auch die Perspektiven. Eine folgt der anderen. Eine jede wird ausprobiert. Erst einmal ist das ja eine wichtige Grundlage von Weiterentwicklung.
Mit schließlich der wichtigen Erkenntnis: es gibt sie nicht – die eine richtige Perspektive, die für alle gleichermaßen und zu jedem Zeitpunkt Priorität hat. Das spiegelt unsere heutige Lebenswelt wider. Mit ihren vielen Möglichkeiten, Lebensabschnitten und Perspektiven. Und jetzt stehen sie da, Vater und Sohn – ganz genau wie wir alle –, und müssen die eigene Handlungsperspektive finden und entwickeln.
Dazu sollten wir dem auf die Spur gehen, was unseren Entscheidungen zugrunde liegt an Erfahrung, Sicht und Wertung. Wir sollten klären, was davon weiterhin zu uns gehören soll – und was nicht. Damit legen wir ein gutes Fundament. So können wir zukünftig selbstbestimmt entscheiden, ob und wann wir neue Perspektiven (auch die anderer) integrieren wollen – und welche wir getrost vorbeiziehen lassen können.
TAKE AWAY
Nehmen Sie den Impuls auf. Lassen Sie sich dazu inspirieren, sich selbst in nächster Zeit einmal aufmerksamer dabei zu beobachten, wenn Sie eine Entscheidung treffen und zwischen zwei oder mehreren Optionen wählen können/müssen. Was passiert da eigentlich?
(Es geht natürlich auch, eine schon getroffene Entscheidung einmal nachträglich auf diese Weise zu erforschen.)
Fragen Sie sich z.B.:
- Welche Perspektive, Erfahrung, Wertung liegt meiner Entscheidung zu Grunde?
- Welche Präferenzen und Prioritäten werden sichtbar?
- Welche gedanklichen Einschränkungen und Limitationen?
- Woher kommt all dies?
- Bin ich mir dessen bewusst gewesen?
- Stimme ich mit dem überein, was meiner Entscheidung zugrunde liegt?
- Habe ich vielleicht eine andere Stimme gehört, die mir etwas zugeflüstert hat?
- Gibt es ‚Ratgeber’? Wie bin ich mit deren Meinungen/Einschätzungen umgegangen?
- Habe ich verschiedene Perspektiven eingenommen?
Und jetzt spannend:
Was haben Sie herausgefunden?Wer bestimmt über Ihre Entscheidungen?
Notieren Sie es.
- Was ist mir klargeworden, besonders aufgefallen?
- Was hat mich überrascht und warum?
Was wollen Sie verändern oder beibehalten? Was wollen Sie entwickeln und klären?